Schelmenroman: Landstreicher und Glücksritter

Schelmenroman: Landstreicher und Glücksritter
Schelmenroman: Landstreicher und Glücksritter
 
In drei Städten, in Burgos, Alcalá de Henares und Antwerpen, erschien 1554 anonym ein kleines Buch, das das Gattungsspektrum der europäischen Literaturen in genialer Weise erweiterte: »Das Leben des Lazarillo von Tormes. Seine Freuden und Leiden«. Anders als in den Ritterromanen mit ihren heroisch-fantastischen Ereignissen, ihrem idealischen Lieben und Leiden, anders auch als in der Schäferdichtung mit ihrer empfindsamen Idylle von Hirtinnen und Hirten, die ihre Freuden und Klagen im zarten Miteinander und in Harmonie mit der Natur verströmen, tritt in diesem ersten Schelmenroman eine grausame Wirklichkeit ins Zentrum des Erzählerinteresses. Lazarillo wird in einer Mühle im Flusse Tormes geboren. Sein Vater wird wegen Diebstahls des Landes verwiesen und fällt im Kampf gegen die Mauren. Seine Mutter zieht mit ihm nach Salamanca, wo sie für Studenten kocht und für Stallknechte wäscht. Mit einem von ihnen, einem Schwarzen namens Zayde, geht sie ein Verhältnis ein und schenkt Lazarillo »eines Tages ein niedliches Negerchen«. Doch Zayde hat ihm anvertrautes Gut veruntreut, und so endet auch diese familiäre Episode rasch. Dafür beginnt aber Lazarillos Weg, als Diener verschiedener Herren die Bitterkeit der zeitgenössischen Realität zu erfahren. Zuerst kommt er zu einem Blinden, der ihm durch seine bösartige Scheinheiligkeit ein für allemal seine gutmütige Einfalt nimmt. Lazarillo versucht nun, den Blinden immer wieder zu täuschen, weil der ihm nichts zu essen gibt, und rächt sich schließlich grausam an ihm, als er dessen Quälereien nicht mehr ertragen kann. Sein nächster Herr ist ein fürchterlich geiziger Priester, bei dem Lazarillo wiederum fast verhungert wäre, wenn er sich nicht durch seine Findigkeit etwas zu essen hätte verschaffen können. Aber auch dies wird entdeckt. Der geistliche Herr verprügelt den Jungen erbarmungslos, und nur weil Nachbarn ihn gesund pflegen, kommt er noch einmal davon.
 
Literarisch äußerst raffiniert und gewiss am stärksten vom Kolorit der Zeit erfüllt, ist die Begegnung Lazarillos mit seinem dritten Herrn, »einem Edelmann. .., der in feinen Kleidern und sorgfältig gekämmt, gemessen in Schritt und Haltung die Straße daherkam«. Erst allmählich wird Lazarillo klar, dass der »Hidalgo« völlig verarmt ist und nur um der Ehre willen den äußeren Anschein aufrecht erhält. Schließlich tut ihm sein Herr so leid, dass er ihn an seinem Erbettelten teilhaben lässt. Aber auch hier wird Lazarillo wieder desillusioniert: Ohne Dank verschwindet der adelige Habenichts spurlos, als ihn seine Gläubiger bedrängen. Lazaros Weg führt noch zu fünf weiteren Herren - einem Mercedarier-Mönch, einem Ablasskrämer, einem Tamburinmaler, einem Kaplan, einem Gerichtsdiener - bevor er am Ende in die Dienste eines Erzpriesters tritt.
 
Das schmale Werk zeigt bereits alle typischen Merkmale des pikaresken Romans, obwohl das spanische Wort für »Schelm«, »Pícaro«, in ihm nicht vorkommt. In einer fiktiven Autobiographie stellt ein zumeist aus einfachsten Verhältnissen stammender Ich-Erzähler sein Leben dar, das ihn nach mancherlei Unbill in eine Situation stabiler Ehrlosigkeit geführt hat, aus der heraus er berichtet. Der Charme des »Lazarillo« liegt in der vorgeblichen Naivität seiner Darstellung, die das Verbrecherische, Hinterhältige und Heuchlerische in einem Ton braven Respekts widergibt und dies immer wieder mit biblischen Weisheiten würzt, deren Inhalte dadurch satirisch verkehrt werden. Nicht zuletzt dies war der Grund dafür, dass man hinter dem anonymen Verfasser einen konvertierten Juden vermutete.
 
Auch wenn der Anfangserfolg des Werkes gering war - wohl auch, weil es bereits 1559 auf den Index der verbotenen Bücher kam -, konsolidierte sich die Gattung endgültig mit dem in zwei Teilen 1599 und 1604 veröffentlichten »Guzmán de Alfarache« des hochgebildeten Mateo Alemán. Sein Protagonist ist nun freilich ein ganz anderer Schelm als der gute Lazarillo. Er stiehlt, spielt falsch und stapelt hoch, hurt, treibt Wucher und betrügt - kurz, er ist von so außerordentlicher krimineller Energie, dass er schließlich zu lebenslänglichem Galeerendienst verurteilt wird. Eine Begnadigung erlangt er, weil er eine Revolte der Galeerensträflinge verhindern kann. Aus dieser Perspektive stellt er voller Reue die Geschichte seines Lebens dar. Die schlimmsten Streiche und Verbrechen geben so den Anlass zu moralischen Unterweisungen. Die Darstellung verschiedener sozialer Milieus diente der Entlarvung der Sittenverderbnis nicht nur der eigenen Zeit; denn Mateo Alemán zielte weiter, er wollte den Menschen an sich und ganz allgemein einsichtiger machen, indem er ihm seine Illusionen nahm. Entsprechend heißt der zweite Teil des »Guzmán de Alfarache« im Untertitel auch »Aussichtsturm auf das menschliche Leben«. An die Stelle von Lazarillos wohl inszenierter Einfalt tritt Guzmáns düsterer Pessimismus, dessen zynische und verzweifelte Klarheit zeitlose Einsichten formuliert: »Alle lauern wir hinterlistig aufeinander, wie die Katze auf die Maus und die Spinne auf die Schlange«.
 
Ungleich radikaler noch in der Absicht zu desillusionieren, verfährt Francisco de Quevedo y Villegas in seiner »Lebensgeschichte des Buscón, genannt Don Pablos, Mustervagabund und Gaunerleuchte«, deren erste Fassung wohl bereits 1603 entstand, die aber erst 1626 im Druck erschien. Der Protagonist stammt aus Segovia, sein Vater ist ein saufender Barbier, der immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt gerät, seine Mutter in ihrer Jugend eine Dirne und im Alter eine Hexe. Vervollständigt wird die »Familienidylle« von Pablos' Onkel Ramplón, dessen Beruf man einem Brief an Pablos entnehmen kann: »Es ist acht Tage her, dass euer Vater starb, tapfer, wie nur ein Mensch zu sterben vermag; ich kann es sagen, weil ich ihn selbst aufgehängt habe.«
 
Seine zwielichtige Herkunft hängt Pablos schon in Segovia an. Aber er wird Diener eines Adeligen, mit dem zusammen er an die Universität Alcalá geht, wo er sich endgültig zum Spitzbuben mausert. Eine andere Überlebensmöglichkeit räumt ihm seine soziale Stellung nicht ein. Als Verkörperung des »widerbürgerlichen Lebensvirtuosen« schlechthin, so Leo Spitzer, wird er Bandenmitglied, Bettler, Räuber, Hochstapler und schließlich Mörder, der am Ende sein Glück in den überseeischen Kolonien Spaniens suchen will. Quevedos Buch ist eine anklagende Satire, pessimistisch, grotesk und bitter, von einzigartiger literarisch-stilistischer Vollendung. Hier wird eigentlich ein Leben beschrieben, das nicht mehr abschreckend zur Erbauung taugt, dessen Komik erstickt, dessen Aufhebung aller Ehrbarkeit in atemlose Verstörung führt, doch der Dichter verhüllt diese Wirklichkeit in immer neuen Sprachspielen, macht alles Reale imaginär. So scheint auch die Schlussweisheit, dass der, der nur den Ort und nicht seine Lebensweise wechsele, immer den Spielkräften der Negativität unterworfen bleibe, in ihrer vorgeblichen Schlichtheit wie ein Verweis auf die Sinnlosigkeit jeglichen Moralisierens.
 
Noch bis etwa in die Mitte des 17. Jahrhunderts bleibt das Gattungsmodell des Schelmenromans in Spanien wirksam. Sein Personenspektrum weitet sich auf weibliche Protagonisten aus - im Roman »La Pícara Justina« von Francisco López de Úbeda oder in »La hija de Celestina« von Alonso Jerónimo Salas Barbadillo - auf Helden, deren fiktive Biographie durch autobiographische Einzelheiten aus dem Leben des jeweiligen Verfassers angereichert ist wie die des Schildknappen »Marcos de Obregón« des berühmten Musikers Vicente Espinel, oder auf historische Gestalten, die als »Pícaro« dargestellt werden, wie der in die Wechselfälle des Dreißigjährigen Krieges verwickelte Hofnarr Ottavio Piccolominis »Estebanillo González« des Gabriel de la Vega. Mit diesem Werk setzt der Niedergang des Genres in Spanien ein. Seine europäische Verbreitung aber in unterschiedlichen nationalen Adaptationen ist bis in die Moderne ungebrochen.
 
Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange
 
 
Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Beiträge von Wolfgang Beutin u. a. Stuttgart u. a. 51994.
 
Französische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürgen Grimm. Stuttgart u. a. 31994.
 
Spanische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hans-Jörg Neuschäfer. Stuttgart u. a. 1997.

Universal-Lexikon. 2012.

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